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von Anika Limbach, AntiAtomBonn (Artikel aus der BUZ Juni/Juli 2015)

Atommüll im Atlantik

"Versenkt und Vergessen", so heißt eine vom SWR produzierte Dokumentation über den Atommüll vor Europas Küsten, die im Herbst 2011 hohe Wellen schlug. Bis ins Jahr 1982 versenkten 9 Staaten – darunter auch Deutschland – schwach- und mittelradioaktiven Atommüll im Nordostatlantik. Niemand weiß, wie viele der 222.732 Fässer auf dem Meeresboden noch intakt sind. Die Filmemacher hatten einen Versenkungsort im Ärmelkanal in etwa 100 Meter Tiefe genauer untersucht. Sowohl unbeschädigte als auch völlig marode Fässer kamen vor die Kamera. Die spektakulären Aufnahmen vom rostigen Fragment eines Atomfasses mögen noch vielen Zuschauern präsent sein.
Am Beispiel der Insel Alderney (im Ärmelkanal) und der Region um Sellafield zeigt der Film sehr deutlich den Zusammenhang zwischen erhöhter Radioaktivität im Meer und einer steigenden Krebsrate in den nah gelegenen Küstenorten. Dies wird von den zuständigen Behörden systematisch geleugnet und vertuscht. Ihre Verquickung mit der Atomindustrie lässt sich anhand mancher Interviews durchaus erahnen.

 

Die Atomfässer sind eine gravierende, aber nicht die einzige Quelle radioaktiver Belastung in den Ozeanen. Im Nordostatlantik kommen die strahlenden Abwässer der Wiederaufbereitungsanlagen in La Hague und Sellafield hinzu. Während die Verklappung von Atommüll 1993 weltweit geächtet wurde, ließ man die Genehmigung der beiden Abwasserrohre in England und Frankreich  unangestatet – bis heute. Auch dies wurde im Film thematisiert. Zur Genehmigung des Abwasserrohrs in Sellafield äußert Wolfgang Renneberg, ehemaliger Leiter für Reaktorsicherheit im BMUB: "Es gibt dafür keine logische Begründung. Dahinter stecken letztendlich wirtschaftliche Interessen."
Nach Aussagen der Betreiber ist der verflüssigte Atommüll zwar nicht so giftig und radioaktiv wie noch vor 20 Jahren – angeblich bleibe man weit unter den Grenzwerten. Verhindert wird dadurch aber nicht, dass sich langlebige Radionuklide wie beispielsweise Plutonium über einen längeren Zeitraum ansammeln, in Sedimenten ablagern und von dort aus in die Nahrungskette gelangen.
Auch die Katastrophe von Tschernobyl spielt bei der Verstrahlung der Meere eine Rolle. Dies gilt vor allem für die Ostsee.

Wie verseucht ist der Pazifik?

Jahrzehntelange haben im Pazifischen Ozean insgesamt über 300 Atombombentests stattgefunden, durch das französische Militär sogar bis in die 90er Jahre hinein. Manche Inseln wurden aufgrund der Strahlung unbewohnbar und viele Menschen der Umgebung erkrankten an Krebs. Die in den Tests freigesetzten langlebigen Radionuklide tragen immer noch erheblich zur radioaktiven Belastung im Pazifik bei.
Hinzugekommen ist das, was durch die Katastrophe von Fukushima in den Ozean gelangte.
Man schätzt, dass 80 bis 90 Prozent des Fallouts auf das Meer niederging – ein Umstand, der die japanische Bevölkerung vor noch Schlimmerem bewahrte. Die Menge der entwichenen Radioaktivität ist geringer als das, was 1986 in Tschernobyl in die Atmosphäre geschleudert wurde, doch die Katastrophe in Fukushima dauert an, und sie wird so schnell kein Ende finden. Niemand weiß, ob das strahlende Inventar der havarierten Reaktoren dauerhaft von der Umwelt abgeschirmt werden kann. Um die geschmolzenen Brennelemente zu kühlen, pumpt TEPCO täglich "300 Tonnen Wasser" in die Anlage, so heißt es im letzten Statusbericht von Greenpeace. Der Betreiber versucht zwar, das verseuchte Wasser in Stahltanks zu leiten und so weit wie möglich zu dekontaminieren, hat die Lage aber nicht im Griff. Grundwasser gelangt in die Reaktorkellerräume und wird dort verseucht. Es kann nur teilweise in die Tanks gepumpt werden. Der Rest versickert und gelangt ins Meer. Heftige Regenfälle verstärken dies, da sie den Grundwasserpegel anheben. Regen über der Provinz Fukushima bewirkt außerdem, dass viel kontaminierter Staub in den Flüssen und schließlich im Ozean landet. Heinz Smital, Atomexperte von Greenpeace, berichtet, dass nach Taifunen mit starken Regenfällen die Radioaktivität an den Flussmündungen merklich ansteigt. Immer wieder leitet TEPCO auch absichtlich kontaminiertes Wasser direkt ins Meer.

Wie wirkt sich Radioaktivität auf das Ökosystem der Ozeane aus?

Diese Frage lässt sich kaum erschöpfend beantworten. Denn vieles, was in den Ozeanen passiert, ist bisher noch unerforscht. Aus Untersuchungen im Nordostatlantik weiß man jedoch, dass nicht nur die Konzentration der Radioaktivität im Wasser entscheidend ist, sondern auch deren Anreicherung in der marinen Nahrungskette. Wenn sich beispielsweise Strontium 90 in den Knochen oder Schalen eines Meerestieres einlagert, kann die Strahlung, die von ihm ausgeht, bis zu 1000 mal höher sein als die seiner Umgebung. Nach Aussagen des WWF-Meeresexperten Stephan Lutter ist die Lebensspanne der meisten Meerestiere zu kurz, um Langzeitfolgen erleiden zu müssen. Meeressäugetiere und langlebige Fische jedoch können ähnlich wie Menschen aufgrund der Strahlung tödlich erkranken.
In Japan, wo traditionell viel Fisch verzehrt wird, könnte entweder ein Fangverbot in bestimmten Gebieten oder eine engmaschige Lebensmittelkontrolle die Bevölkerung schützen. Doch die Fische werden nur stichprobenartig untersucht. Dabei wird außer Acht gelassen, dass sich Fische ständig bewegen und im gleichen Gewässer sowohl unbelastet als auch stark kontaminiert sein können. Die Radioaktivität verdünnt sich eben nicht in gleichmäßiger Form innerhalb eines Meeres – so wie Vertreter der Atomindustrie oft behaupten – sondern verteilt sich unkontrolliert und entsprechend der Strömungen. Obwohl der pazifische Ozean die Hälfte der gesamten Meeresfläche auf unserem Planeten umfasst, wurden radioaktive Teilchen, darunter auch Cäsium-Isotope 134 und 137, die nachweislich aus Fukushima stammen, über eine obere Wasserschicht bis an die nordamerikanische Küste transportiert.
Zwischen der Tiefsee und den oberen Meeresschichten gibt es dennoch einen Austausch, wie Biologen feststellten. Viele der (geplanten) Versenkungsorte im Atlantik weisen eine Tiefe von mehreren 1000 Metern auf. Man behauptete damals, das radioaktive Inventar der Fässer würde auf Dauer in der Tiefsee verbleiben und nicht in küstennahe Gebiete gelangen. Dies war bestenfalls eine Fehleinschätzung.

Welche Handlungen erfordert die Situation?

Es ist davon auszugehen, dass zumindest die langlebigen Radionuklide in den Ozeanen irgendwann in die von Menschen bewohnte Sphäre dringen. Die Frage stellt sich, wie man den Schaden abwenden oder abmildern kann.
Während in Japan die Verantwortlichen wie auch die Bevölkerung mit etwas umgehen müssen, das bereits geschehen ist, könnte politisches Handeln in Europa eine immer akuter werdende Gefahr eindämmen. Die noch intakten Atomfässer auf dem Meeresboden sind wie eine tickende Zeitbombe. Ihre Bergung wäre eine große Herausforderung, zumal die Versenkungsorte wie auch das Inventar der Fässer sehr unpräzise angegeben oder sogar unbekannt sind. Die Aktion würde ein umfassendes Monítoring voraussetzen. Zur Zeit gibt es so etwas nicht ansatzweise. Immerhin hat die Bundesregierung im Februar 2014 einem Ausschuss der OSPAR (der Internationalen Meeresschutzorganisation) Vorschläge für die Errichtung eines Monitorings unterbreitet. Die OSPAR-Staaten beschlossen daraufhin, die deutsche Initiative in einen gemeinsamen Bericht zu integrieren. Dieser wird allerdings auf die historische Darstellung beschränkt sein. Der wichtigere Teil zum weiteren Vorgehen fließt in einen zweiten Bericht. Die Vermutung liegt nah, dass dieser auf die lange Bank geschoben wird. Anders gesagt: Es gibt Widerstand gegen das Monitoring. Entschiedenes Handeln, wie es die Lage erfordert, sieht anders aus.
Das Atommülldesaster, sei es zu Wasser oder zu Land, führt eines vor Augen: Vor nicht produziertem Atommüll muss man sich nicht schützen.