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Uralte Atomkraftwerke wie in Tihange, Doel und Fessenheim lassen die Gefahr eines Super-GAU in Europa von Tag zu Tag steigen – wenn wir nicht entschieden handeln

ein Kommentar von Anika Limbach (BUZ-Ausgabe März/April 2016)

Tihange und Doel: Die tägliche Gefahr

Die Gewissenlosigkeit, mit der die belgische Atomaufsicht FANC völlig marode Atommeiler weiter betreiben lässt, ist kaum noch zu überbieten. Vor Kurzem enthüllte der WDR ein äußerst beunruhigendes Detail: Die Blöcke Tihange 2 und Doel 3 sind offenbar so brüchig, dass sogar normal temperiertes Kühlwasser die Reaktordruckbehälter zum Bersten bringen könnte. Die Folge wäre eine teilweise oder vollständige Kernschmelze. Um einen sog. thermischen Schock zu vermeiden, ordnete die FANC bereits 2012 an, das Notkühl-Wasser auf 30 Grad vorzuheizen. Im Dezember 2015 kündigte sie an, diese Maßnahme noch zu verschärfen. Zumindest für Doel solle die Vorheiztemperatur auf nicht weniger als 45 Grad erhöht werden. Damit wäre ausgereizt, was möglich ist, denn ab 50 Grad hätte Wasser nicht mehr den Effekt, erhitzte Brennstäbe zu kühlen. Es ist ein abenteuerliches Vorgehen, das Experten bisher nur aus Russland und osteuropäischen Ländern kennen.


Angsichts dieses entlarvenden Details und der endlosen Pannenserie belgischer AKW erscheint es unbegreiflich, warum die FANC die Druckbehälter trotz Tausender Risse als unbedenklich einstufte und die Meiler nach zwei Jahren 2015 wieder anfahren ließ. Ihre Einschätzung widerspricht allen sonstigen Gutachten und Expertenmeinungen. Wer jedoch weiß, dass Jan Bens, Chef der belgischen Atomaufsicht, vor seinem Amtsantritt 2013 langjähriger Leiter des AKW in Doel war, ist über dessen Haltung nicht mehr ganz so verwundert. Sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, ist deshalb nicht einfacher. Notwendig ist es in jeden Fall.
Der Weiterbetrieb der übrigen 5 belgischen Atommeiler stellt ebenfalls ein hohes Risiko dar. Doel 1 und 2 sowie Block 1 in Tihange gehören mit über 40 Jahren Laufzeit zu den ältesten noch laufenden Reaktoren in Europa. In der Regel beginnt der Alterungsprozess der in AKW eingesetzten Materialien nach 20 Jahren (Quelle: BUND-Studie 2009). Sowohl die Anzahl von Störfällen als auch die graduelle Schwächung von Werkstoffen wächst nach etwa 25 Jahren Betriebszeit exponentiell, d.h. je länger AKW laufen, desto schneller steigt die Gefahr, die von ihnen ausgeht.
Die längst überfällige Entscheidung, Doel 1 und 2 Ende 2015 stillzulegen, wurde im Dezember von der belgischen Nachfolgeregierung wieder gekippt und eine Laufzeitverlängerung um 10 Jahre bewilligt. Massive Kritik kam nicht nur von Umweltoganisationen, sondern auch vom nördlichen Nachbarn Holland. Laut einer Sicherheitsanalyse dürften beiden Uraltreaktoren nach niederländischen Kriterien keinesfalls weiter betrieben werden.
Leckagen, Brände, Risse sowie Schlampereien durch die Betriebsmannschaft – die Liste der Zwischenfälle und Mängel ist lang. Und sie betrifft nicht nur die älteren der insgesamt 7 Reaktoren. Laut einer Statistik der IAEO sind die belgischen AKW die unzuverlässigsten der Welt.

Starke Zivilgesellschaft – schwache Politik

Am Beispiel von Aachen wird deutlich, wie sich Protest plötzlich ausbreiten kann – bis in die Mitte der Gesellschaft. Schon seit Jahrzehnten machen Atomkraftgegner immer wieder auf die Gefahren aufmerksam, die vom 65 km entfernten AKW Tihange ausgehen. Inzwischen ist, so kann man sagen, die ganze Stadt aufgewacht. Als Reaktion auf das Wiederanfahren des Rissreaktors in Tihange gingen am 22. Dezember in Aachen über 2000 Menschen auf die Straße. Die Kundgebung war dieses Mal von einem parteiübergreifenden Bündnis organisiert worden. In Zusammenarbeit mit Greenpeace Belgien reichte die Städteregion Aachen vor Kurzem die angekündigten Klagen gegen das AKW Tihange ein. Sie wird dabei von mehreren Kommunen unterstützt, demnächst auch von der Stadt Bonn. Ein entsprechender Antrag für die Abstimmung im Stadtrat wurde von AntiAtomBonn angeregt.
Indessen lenkten Anti-Atom-Gruppen aus ganz NRW den Fokus auf die ANF-Brennelementefarbik in Lingen. Diese beliefert marode AKW nahe der deutschen Grenze: Fessenheim, Cattenom und Doel. In einem Offenen Brief forderten die Initiativen vor allem von Umweltministerin Hendricks, die Exporte deutscher Brennstäbe nach Belgien und Frankreich sofort zu unterbinden und die Lingener Fabrik zu schließen. Das landesweite Bündnis, das sich auf Anregung von AntiAtomBonn neu zusammenfand, stellte innerhalb weniger Wochen eine Demonstration in Lingen auf die Beine und blockierte am Morgen danach die Einfahrt zur Fabrik (Bericht dazu auf unserer Homepage / siehe Bericht auf Seite ?).
Und was unternimmt die Politik? Was Frau Hendricks bisher auf den Weg brachte, ist so wenig, dass der Eindruck entsteht, sie wolle nur dem Anschein nach handeln. Ihr Treffen mit dem belgischen Innenminister kam nicht etwa zustande, weil sie darauf gedrungen hatte – sie folgte nur seiner Einladung. Gleichzeitig wurde sie nicht müde zu betonen, dass sie als deutsche Ministerin keinen wirklichen Einfluss auf die belgische Energiepolitik habe. Und auf Anfrage der TAZ ließ sie über einen Sprecher verlauten, es sei "aufgrund der aktuellen Rechtslage nicht möglich", Transporte aus Lingen zu unterbinden. So zutreffend diese Äußerungen auch sein mögen – sie sind angesichts der akuten Bedrohung nicht angemessen. Frau Hendricks wie übrigens auch Frau Merkel haben den Amtseid abgelegt, "Schaden" vom "deutschen Volk" zu "wenden". Ein Dienst nach Vorschrift jedoch kann den "Schaden" nicht abwenden, nicht in dieser Lage.
Hans-Christian Markert, atompolitischer Sprecher der Grünen in NRW, formuliert das so: "Die Leidenschaft, mit der die Bundesregierung auf europäischer Ebene gegenüber Griechenland falsche Politik betrieben hat, sollte sie nun zum Schutz der hiesigen Bevölkerung insbesondere auch auf europäischer Ebene für die richtige Politik einsetzen – etwa gegenüber der Europäischen Atomaufsicht."

Deutsche Handlungsspielräume

Mit politischem Willen ist vieles möglich.

Die Bundesregierung könnte:

1. in der Europäischen Union darauf dringen, dass die belgischen Reaktoren in einem ähnlichen Verfahren wie beim europäischen Stresstest erneut untersucht und dieses Mal vorübergehend stillgelegt werden, solange die Mängel nicht behoben sind. Auch in der atomfreundlichen Europäischen Kommission ließen sich dafür genügend Verbündete finden.

2. aus dem EURATOM-Vertrag aussteigen
Als EURATOM-Mitglied fördert Deutschland die Atomkraft in Europa, vor allem finanziell. Einen Austritt fordern Umweltverbänden schon seit Jahren, genauso wie die Linken. Hubertus Zdebel wies kürzlich im "Freitag" darauf hin, dass mit diesem Schritt eine Neuverhandlung europäischer Staaten zur Atompolitik angestoßen würde.

3. eine Änderung das Atomgesetzes über den Bundestag beschließen lassen.
Bisher umfasst der "Atomausstieg" nur die Stromerzeugung, nicht aber die gesamte nukleare Brennstoffkette. Anlagen wie die Fabrik in Lingen und die Urananreicherugsanlage (UAA) in Gronau besitzen also nach wie vor eine unbegrenzte Betriebsgenehmigung. Die rot-grüne Landesregierung wollte dies nach Fukushima ändern. Ihr Vorschlag zur Neufassung des Atomgesetzes stieß im Bundesrat auf breite Zustimmung und führte zu einem Beschluss, wonach die Brennstofferzeugung spätestens 2022 mit Abschalten der letzten deutschen AKW beendet werden muss. Die Bundesregierung hat es bis heute versäumt, dies auch im Bundestag abstimmen zu lassen.

4. einen Brennelemente-Lieferstopp von Lingen nach Doel (und Frankreich) erwirken
Diese Maßnahme hätte den Vorteil, dass sie fast unmittelbar wirkt. Ob sie juristisch tatsächlich ausgeschlossen ist, darf bezweifelt werden. Derzeit lässt der niedersächsische Umweltminister diese Möglichkeit rechtlich prüfen. Es bleibt zu hoffen, dass er sie auch nutzt, egal wie eng der Handlungspielraum sein mag. Dass sich Electrabel als Betreiber der maroden AKW in diesem Fall durch einem anderen Lieferanten versorgen lassen könnte, liegt zwar auf der Hand. Doch dies wäre mit Verzögerungen, Aufwand und zusätzliche Ausgaben verbunden. Der belgische Atomkonzern ist finanziell so angeschlagen, dass er sich nur mit Hilfer einer unzulässigen Steuererleichterung über Wasser halten kann. Jede Störung eines reibungslosen Ablaufs könnte seinen Konkurs beschleunigen.

Die NRW-Landesregierung verfügt ebenfalls über Möglichkeiten. Grünen-Landespolitiker Markert schlägt vor, im Rahmen der gemeinsamen Benelux-Strategie mit den Niederlanden, Belgien und Luxemburg die belgischen Schrottreaktoren zu thematisieren. Bei zukünftigen Verhandlungen –insbesondere im Hinblick auf Umwelt- und Energiekooperationen im Rahmen der Strategie - könnten VertreterInnen der Landesregierung das Abschalten belgischer Schrottreaktoren zu einer Bedingung machen. Stromengpässe könnten durch die Reaktivierung von Gas-Kraftwerken ausgeglichen werden.
Aus Sicht der Anti-Atom-Initiativen wäre es außerdem an der Zeit, einen Passus im Koalitionsvertrag endlich umzusetzen und die Atomanlagen in NRW "rechtssicher zu schließen", notfalls auch ohne Änderung des Atomgesetzes. Ob Gegenklagen dann vor Gericht Erfolg hätten, ist juristisch umstritten. Dies mag ein politisches Risiko darstellen, aber ein letzlich wohl tragbares. In Gronau angereichertes Uran befindet sich höchstwahrscheinlich auch in belgischen Reaktoren. Deren Brennelemente stammen zu einem großen Teil vom US-amerikanischen Konzern Westinghouse. Der wiederum wird von Gronau beliefert. Für die Landesregierung sollte dies Anlass genug sein, nun entschieden zu handeln.

Die Chance, dass auf politischer Ebene etwas in Bewegung kommt ist wesentlich größer, wenn der Protest in der Bevölkerung nicht abbricht, sondern weiter an Stärke und Ausdauer gewinnt. AntiAtomBonn bleibt jedenfalls am Ball.